Raum und Nicht-Raum – ein Kommentar zu den Arbeiten von Claudia Larcher
von Anne Sophie Christensen, Wien 2008

„Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkraft des Bewusstseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“  Siegfried Kracauer (1)

Räume sind keine festgefügten Einheiten, die von Beginn an ihre letztgültige Form erhalten. Sie sind wie Lebe­wesen, die heranwachsen und sich über die Jahre entwickeln. Räume verändern sich mit und durch ihre „Bewohner“. Sie setzen sich zusammen aus zahlreichen unscheinbaren und oftmals unbeachteten Oberflächen, die über die unter ihnen verborgenen Strukturen Auskunft geben und ihren Charakter und ihre Persönlichkeit bestimmen. Erst durch längeres Betrachten und genaue Observation werden Tiefe und Vielseitigkeit der Prinzipien, die einen Raum determinieren, erkennbar.
Claudia Larcher beschäftigt sich in den Arbeiten, die sie in ihrer Ausstellung HEIM zeigt, mit Räumen, die für sie mit Heimatgefühl, Vertrautheit und Erinnerung verbunden sind. „Heimat“ steht als Begriff für Identität, Bindung und Geschichte, im Sinne von gelebter Vergangenheit.
Die Räume, mit denen sich die Künstlerin auseinandersetzt, sind somit einerseits topographische Gegebenheiten, andererseits Erinnerungs- und Vorstellungsräume – wobei die unterschiedlichen Wesenheiten nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Realistische Abbildung mischt sich mit surrealer Zuspitzung, Gegenstände werden zu Indikatoren innerer Gefühlskonvulsionen.  
Claudia Larchers Räume  bilden ein Geflecht von beweglichen Elementen, deren Vernetzung durch die jeweiligen Benutzer  definiert wird – die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. 
Für drei in der Ausstellung gezeigte Arbeiten wählte die Künstlerin das Medium Video. 

Das chronologisch erste Werk dieses Triptychons ist die  Videoanimation Everytown (2006/2007). 
Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Vorstellung und künstlerische Bearbeitung von Science Fiction in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in den zwanziger und dreissiger Jahren in den Sparten Literatur und Film; wobei das Hauptaugenmerk sich auf die Gesellschafts­strukturen und deren jeweilige Inszenierung vor allem in neuen Architekturmodellen richtet. Claudia Larcher geht dabei der Frage nach, inwieweit sich die futuristischen Vorhersagen der damals erdachten Zukunft mit der heutigen Gegenwart decken. Durch die Analyse von Filmmaterial, Zeichnungen und Skizzen arbeitet sie bestimmte Merkmale der damaligen Visionen von Architektur, öffentlichen Verkehrsmitteln, Energiegewinnung und politischen Systemen heraus, die sie mittels Fotografien in eine retrofiktionale Videoanimation überträgt. Einige dieser Fotografien, die als modulare Bestandteile einer größeren Collageform verwendet werden, sind  in Wien entstanden, so dass sie hier wohnhaften Betrachtern zwar bekannt erscheinen, im  neuen Kontext jedoch fremd und – dank perspektivischer Verschiebung –bizarr wirken. 
Die so konstruierten Meta-Räume sind Nicht-Orte im Sinne von Marc Augé (2),  , transitorische Szenarien, Übergangsplateaus, menschenleere Stadtwüsten – kalt und unbewohnbar wie die dunkle Seite des Mondes. „Everytown“  unterscheidet sich von den anderen Arbeiten Claudia Larchers dahingehend, dass sie eine Kunst-Welt als Wille und Vorstellung komponiert – ohne individuelle affektive Bindung von seiten der Künstlerin.  Die Frage nach Real und Nichtreal wird suspendiert. Durch das Konstruieren der erdachten Zukunft unter Zuhilfenahme von Fotografien aus der Gegenwart  entsteht ein Wechselspiel zwischen Fremdheit und Vertrautheit, das sich auch in den anderen Arbeiten durch die Verwendung von fragmentarischen Raumansichten und perspektivische Verzerrung  fortsetzt. 

Die zweite Videoarbeit HEIM (2008) beschreibt anhand einer fiktiven Kamerafahrt das einstige Zuhause der Künstlerin in Vorarlberg. Nach jahrelanger Abwesenheit   
Inszenierte Claudia Larcher durch ineinander komponierte  Fotos und Videoaufzeichnungen eine Wiederbegegnung  mit den Räumen der Kindheit, die gleichzeitig  Orte  der  Identitätsbildung.waren . „Die Vergangenheit ist wie die Zukunft oder wie die Gegenwart ein Schauplatz, zu dem du jederzeit zurückkehren kannst.“(3)
Das gesammelte Material wurde bearbeitet und wie ein Panorama durch Fotomontage nahtlos aneinandergefügt. Der Betrachter wird durch diese Dramaturgie stufenlos durch das ganze Haus geführt; der Wechsel zwischen den Stockwerken ist nicht wahrzunehmen. So mischt sich Realität mit einer Traumwelt der fugenlosen Übergänge  - die scheinbar festgefügte Familienwelt mit ihrem ordentlich gestapelten und positionierten Mobiliar wird zum Raum der Passage – hier besser noch: den Rites de Passage. Der gefesselte Blick als Option die Fesseln eines begrenzten Lebensentwurfes zu sprengen. 
„Filme sind sich selber treu,“ schreibt Siegried Kracauer, „ wenn sie physische Realität wiedergeben und enthüllen.“ (4) In diesem Punkt gelingt es der Künstlerin, durch die  Videoanimation HEIM  Räume zu schaffen, die zwar physisch real erscheinen in Wahrheit aber das Rückzugsgebiet kleinbürgerlichen Selbstverständnisses modellhaft verdichten.  
Durch die Technik der Collage entstehen teilweise  perspektivisch  unmögliche Raum­situationen. Die Innenansichten sind mit Mischlicht inszeniert und menschen­leer, sie weisen lediglich durch ihr Interieur auf das Faktum von abwesenden Bewohnern hin. 
Claudia Larcher wählt das Medium Video, um eine Verdichtung der Sinneseindrücke zu erreichen.  Die Banalität des Alltäglichen wird in ihrer Inszenierung mit der Magie des Außerordentlichen bestäubt, triviale Gegenstände beginnen zu schillern und den Zauber von nichtentzifferbaren Rätselzeichen auszustrahlen. Realität mischt sich mit surrealer Poesie, Trivialität wird transzendiert. Auch die Tonspur, die die Bilderzählung begleitet, ist von akustischen Phänomenen, die den häuslichen Alltag instrumentieren, abgeleitet. Geräusche aus dem Heizraum, das Läuten der Türklingel   und das Rattern des Rasenmähers. Erstaunlich ist, dass trotz der Vertrautheit und Alltäglichkeit des Gezeigten beim Betrachter ein suggestives, bedrängendes Gefühl, mitunter sogar Unbehagen entsteht. Durch die  Verdichtung von Bild- und Tonmaterial  wird die Ambivalenz der Gegenstände betont: Ins Vertraute nistet sich das Fremde und Unheimliche ein, der Raum einer vermeintlich friedvollen Provinzidylle wird zum kleinen Horrorladen. 

Wie auch bei der dritten Videoarbeit Nachbarn (2008) deutlich wird, hat die Künstlerin das Medium Video aus besonderem Grund gewählt. Video, im Gegensatz zu Fotografie, verwehrt dem Betrachter die Möglichkeit zu verweilen und den eigenen Wahrnehmungsvorgang kritisch zu analysieren. „Fotografie ist gleichsam die mechanisch erlegte Zeit,“ schreibt Otto Kapfinger. „der getötete, gefangene Moment.“
In den Videoanimationen von Claudia Larcher wird der getötete Moment aber wieder lebendig. Fotos werden mit der Illusion des Laufbildes ausgestattet, gefrorene Augenblicke des Seins verflüssigen sich. 
„Die Essenz von Fotos ist Illusion. Zugleich lehren sie aber die Betrachter auf genuine Weise, diese Illusion als Wahrheit zu erkennen.“(5) Denn der festgehaltene Moment wirkt endgültig, der Blick lässt sich nicht variieren. Dem Video ist diese Endgültigkeit nicht gegeben. Die Videoanimationen sind mit Raum und Zeit gefüllte Fotografien, Chimären eines dynamischen Prozessablaufes, die ihre Spannung aus der immanenten Widersprüchlichkeit beziehen.  
Nachbarn ist wie HEIM eine visuelle Konstruktion,  die sich durch Einzelbilder zu einem scheinbaren Ganzen zusammensetzt. Auch in dieser Arbeit kehrt die Künstlerin zu ihren Wurzeln nach Vorarlberg zurück. Das Video zeigt parzelliertes Grünland, von dem sich ein Teil im Besitz  der Familie befindet.  Auf einigen dieser Streifen stehen kleine Schuppen oder Schrebergartenhäuschen, die, nach Gesetzeslage, nicht bewohnt werden dürfen.  Die Aneinanderreihung der Grünkleine scheint sich bis in die Unendlichkeit auszudehnen, die Grenzen zwischen den einzelnen Räumen zerfließen. Obwohl diese Orte sich dem Blick offenbaren, sind sie nicht öffentlich. Jede Parzelle ist von ihren Besitzern individuell gestaltet worden und gibt so Auskunft über Wünsche, Bedürfnisse und ästhetische Präferenzen der Nutzer. 
Die im Film gespiegelte Realität ist hier reichhaltiger als die Alltagswahrnehmungen.
Die Kamera enthüllt Details, die einem flüchtigen Blick über das Areal entgehen und entwirft gleichzeitig eine panoramatische Perspektive, die, bei aller Fokussierung auf das Kleine, immer ein imaginäres Ganzes im Blickfeld behält: In weiter Ferne, so nah. Nachbarn destilliert mit seiner Mischung aus Laufbild und Still jene ´fotografischen Eigenschaften` des Films heraus, in denen Siegfried Kracauer dessen spezifische Kompetenz erkennen will: Einerseits wird die physische Wirklichkeit sichtbar gemacht, doch nur nach Maßgabe des Blickwinkels auf die Wirklichkeit, den der Schöpfer des Films  einnimmt. 
In den geistig-ästhetischen Umraum der  drei Videoarbeiten gehört auch der Leuchtkasten Ahoi! Flugzeuge, 2008. Auch hier werden Fotos so collagiert, dass ´unmögliche` Perspektiven entstehen und ein, auf den ersten Blick, real erscheinender Raum in Wahrheit eine virtuelle Konstruktion ist. 
Die Collage entstand im Sommer 2008 im Rahmen eines Künstlerprojektes, bei dem alle Beteiligten von ihren Kollegen zu Leuten geschickt wurden, die sie nicht kannten. Bei den betreffenden Personen  hielten sich die Künstler einige Tage lang auf, um das Umfeld und die Wohnsituation der Betreffenden kennenzulernen und die Idee zu einem  Projekt zu gewinnen. 
Claudia Larcher war in Stockholm und besuchte eine Frau namens Anki. Der Leuchtkasten ist eine Collage ihrer Wohnung, die in den bereits aus den Videos vertrauten perspektivischen Verschiebungen und weitwinkeligen Auffächerungen den Charakter eines Meta-Raumes annimmt. Wiederum stellt sich die Frage: Was ist wahr, was ist trompe l`oeil? Die Ästhetik der Ambivalenz, der Unentscheidbarkeit zwischen Realien und irrealen Verdichtungen wird hier in einem anderen Medium ein weiteres Mal durchdekliniert.   „Wahrheit liegt immer deutlicher nicht mehr in der Objektwelt an sich, sondern in der Wirkungsweise ihrer Erscheinung, ihrer Kontrolle in den Konventionen unserer Wahrnehmung.“ (6) (Otto Kapfinger) 
Abgerundet wird die  Ausstellung HEIM durch  Arbeiten aus der Serie Liebherr . Diese   „Nähbilder“ stehen in keinem direkten Bezug zu den Videos. Sie entstanden als Gegengewicht zur Arbeit mit den digitalen Medien..Der Rückgriff auf die Handarbeit in der künstlerischen Produktion ist eine Reaktion auf die Omnipräsenz der Technologie in der heutigen künstlerischen Produktion. Die „automatisierte” Linienführung mit der Maus wurde durch den Faden und die Hand, der Computer durch die Nähmaschine ersetzt. Als Motivvorlage verwendete die Künstlerin Digitalfotografien von Kränen und Baggern auf Baustellen und handelsübliche  Muttern, die sie am Computer nachbearbeitete und grafisch auf unbehandelte Leinwand übertrug. Es geht um eine ästhetische Kollision von Mikro- und Makrostruktur:  Die Kräne und Bagger sind riesig, die Muttern dagegen winzig - und doch lassen sich beide mit Nadel und Faden auf der Leinwand in eine vergleichbare Verhältnismäßigkeit setzen. 
Trotz des genormten Stiches der Nähmaschine entstehen  Unregel­mäßigkeiten, die denen von Bleistiftzeichnungen ähneln. Liebherr zeigt das ruinöse Gesicht des ausfadenden Industriezeitalters. Ein zum Minimundus verkleinerter Jurassic Park gesellschaftlicher Produktion mit schwerem Gerät und, am anderen Ende des Spektrums, grotesk aufgeblähte Werkzeugkleinteile – so, als habe jemand eine Lupe vor die Objekte geschoben. 
Von weitem scheinen die Leinwände durch ihre Monorchromie nahezu leer zu sein. Erst durch die Lichtsetzung im Raum und durch die Bewegung des Betrachters im Raum wird der Bildinhalt erkennbar.
Im Gegensatz zu den Videoanimationen ist hier der aktive Betrachter gefordert: 
Nicht die Kamera gibt  Betrachtungswinkel,  Sichtweise und Dauer vor, sondern der Besucher bestimmt seinen Rezeptionsmodus selbst. 
Letztendlich sind alle Arbeiten von Claudia Larcher künstlerische Reflexionen über Raum und Zeit: Die Restbestände wirklich gelebten Lebens kleben noch am Werk wie die Eierschalen am gerade geschlüpften Küken, doch in der Bearbeitung schließen sich völlig neue Raum-Zeit-Kontinua auf: Man könnte hier einen Bezug zum Begriff der Verdichtung, wie er in Freuds „Traumdeutung“ verwendet wird herstellen: Die Konzentration von Bedeutung auf engem Raum, die Überdeterminiertheit von Wirklichkeit im Sinne einer quasi-surrealen semantischen Verschiebung, die Enthüllung von partikularen Wahrheiten durch ihre Spiegelungen in der Chiffre und im Symbol. Claudia Larcher ist eine Künstlerin, die sich der Entdeckung der Langsamkeit verschrieben hat, die jedoch den kontemplativen Blick auf die Wirklichkeit mit einer Fülle von visuellen Stimuli auflädt. Sie begeht Traumpfade, die direkt aus der Kindheit hinüberführen in eine komplexe und schwer enträtselbare Gegenwart und Zukunft: „Der Traum ist eine Psychose,“ hat Sigmund Freund geschrieben, „mit allen Ungereimtheiten, Wahnbildungen und Sinnestäuschungen einer solchen.“ 

(1) Kracauer, Siegfried; Über Arbeitsnachweise – Konstruktion eines Raumes. In: Kracauer, Siegfried; Mülder-Bach, Inka [Hrsg.]; Schriften, Band 5,2. Aufsätze 1927-1931; Frankfurt am Main; 1990; S.185-192, S. 186

(2)  So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort. Unsere Hypothese lautet nun, daß die ‘Übermoderne’ Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind und, anders als die Baudelairesche Moderne, die alten Orte nicht integrieren; registriert, klassifiziert und zu ‘Orten der Erinnerung’ erhoben, nehmen die alten Orte darin einen speziellen, festumschriebenen Platz ein. /.../ Ort und Nicht-Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her - es sind Palimpseste, auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs neue seine Spiegelung findet. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. www.kulturregion-stuttgart.de/offeneraeume/texte/auge.

(3) Zitat nach Blaise, Clark; Die Zähmung der Zeit. Sir Sandford Fleming und die Erfindung der Weltzeit; Frankfurt am Main; 2001; S.200f

(4) Kracauer, Siegfried; Theorie des Films. In: Kracauer, Siegfried; übers. von Friedrich Walter/Ruth Zellschan; Schriften, Band 3; Frankfurt am Main; 1973; S.11

(5) Kapfinger, Otto; Kalligrafien des Zivilisationsprozesses. In: Kunsthaus Bregenz [Hrsg.], Thole, Eva [Red.]; Lucinda Devliln, Andreas Gursky, Candida Höfer – Räume; Köln; 1999; S. 6-12; S. 7

(6) Kapfinger, Otto; Kalligrafien des Zivilisationsprozesses. In: Kunsthaus Bregenz [Hrsg.], Thole, Eva [Red.]; Lucinda Devlin, Andreas Gursky, Candida Höfer – Räume; Köln; 1999; S. 6-12; S. 7